Digitale Lebenswelten, Teil 2 – Rahmen für Verbände, Rahmen für den Diskurs

Searching for the Internet, Iselin, CC-BY-2.0
Foto: „Searching for the Internet“ von Iselin, CC-BY‑2.0

Alles Neuland, oder was? Worum geht es eigentlich, wenn von „Digitalen Lebenswelten“ die Rede ist? Ist alles anders? Ist alles so wie früher, nur mit mehr WLAN? Das Netz verändert die Gesellschaft – wie wir miteinander reden, was wir unter öffentlich und privat verstehen, wie wir uns organisieren. Im ersten Teil ging es um den Wandel der Öffentlichkeit vom publizistischen zum privaten. Im zweiten Teil geht es um veränderte Rahmenbedingungen für Organisationen und Rahmen für einen zivilisierten Diskurs – gesetzlich und gesellschaftlich.

Das Diskursklima wird rauer

Neue Kommunikationsformen ermöglichen wie erhofft ansonsten marginalisierten Gruppen – ob diese Marginalisierung zurecht (wie bei Antisemitismus und Nationalismus) oder zu Unrecht erfolgt – in Kontakt zu treten und sich zu organisieren. Populistische und rechtsextreme Kräfte nutzen soziale Medien polarisierend und ungleich erfolgreicher als jede etablierte demokratische Kraft, das Diskursklima wird rauer. Eine Antwort aus der demokratischen Zivilgesellschaft steht noch aus – auch wegen der großen Ungleichzeitigkeit beim Aufwand: Virale Verbreitung von einfachen Botschaften und Polemik ist einfach, systematische Widerlegung aufwendig bis unmöglich. Stefan Plöchinger, Digitalchef der Süddeutschen Zeitung, spricht von einer „Emotionsmechanik der sozialen Vernetzung“.

Dabei haben die etablierten Parteien den Trend eigentlich nicht verschlafen – sich aber stärker der Struktur als der Kommunikation zugewandt. Ein „Virtueller Ortsverein“ (SPD), „virtuelle Parteitage“ (CDU, Grüne) und Netz-Landesverbände (PDS, FDP) waren um die Jahrtausendwende Versuche, hergebrachte Organisationen kommunikativ und partizipativ in die Gegenwart zu holen. Die Erfolge blieben überschaubar: Weiterhin bestand das Problem der „Diktatur der Zeitreichen“ (Peter Glotz), politisches Engagement blieb hochschwellig. Das „skaliert nicht“, wie man in der Sprache der Informatik sagt: Was für wenige Menschen im Kleinen funktioniert, muss angesichts der Größe des Wahlvolks scheitern. Die Unzufriedenheit mit repräsentativen und indirekten Formen der Politik bleibt, der Wunsch, gehört zu werden, besteht fort.

Das ist eine Problemlage, vor der nicht nur die Parteipolitik steht; die gesamte Zivilgesellschaft ist betroffen, natürlich auch die organisierte Jugend(verbands)arbeit, wo das Netz oft noch als reiner Sendekanal verstanden wird, ohne die Vergesellschaftungsformen von Jugendlichen im Digitalen aufzugreifen. Communities der Verbände und digitale Communities sind sehr unterschiedlich organisiert: Digitale Öffentlichkeiten sind weniger strukturzentriert als themenzentriert (Hashtag-Öffentlichkeiten, Meme) oder personalisiert (YouTube-Stars), verbandliche eher strukturorientiert. Max Webers Typologie borgend könnte man von „charismatischer“ im Gegensatz zu „legaler“ Öffentlichkeit sprechen.

Regeln für den Diskurs

Hergebrachte, bewährte politische Organisationen mit einer zeitgemäßen Communiy-Orientierung zu stärken ist nur eine der drängenden Fragen, die anstehen. Eher hilflos muten die politischen Reaktionen auf Polemik, radikale Vereinfachung und „Fake news“ an. Ein demokratischer Stil und Anstand lassen sich nicht politisch verordnen, Rechtslücken gibt es angesichts der Strafbarkeit von Volksverhetzung und Beleidigung eigentlich nicht. Höchstens bestehen Defizite in der Rechtsdurchsetzung – und bei der Regulierung von Social-Medial-Plattformen, wo noch ordnungspolitisch sinnvolle, durchsetzbare und die Grundrechte achtende Modelle fehlen. Hier braucht es eine politische Debatte, die über die Aufforderung nach Selbstregulierung hinaus geht, und mit der tatsächlich rechtspolitisches Neuland erschlossen werden muss: Social-Media-Plattformen sind einerseits neutrale Dienstanbieter, vergleichbar mit Post- und Telekommunikationsunternehmen. Sie sind Werkzeuge für einzelne und Gruppen, die publizieren, aber selbst keine Verlage oder Inhalteanbieter. Gleichzeitig sind sie aber nicht einfach nur neutrale Werkzeuge – sie strukturieren durch Sortierkriterien die Öffentlichkeit: Die Reihenfolge der Suchergebnisse, die Google zur Verfügung stellt wie die Auswahl der Inhalte, die Facebook in die eigene Timeline ausspielt, ist zwar nach einem mathematischen Verfahren bestimmt – aber diese Verfahren sind selbst wertbehaftet. Welches Maß an Transparenz, Kontrolle, Regulierung braucht es hier? Welche rechtliche Verantwortung tragen Plattformen, wann sollen sie als Störer, Mittäter, untätige Mitwisser haften?

Habermas hat eher zurückhaltend auf die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation reagiert; er befürchtet vor allem die unstrukturierte Kakophonie einer entgrenzten Öffentlichkeit. Im fehlen „Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren“ – was 2008 noch viel Kritik aus der Netzszene erzeugte, scheint heute angesichts von auseinanderdriftenden Gesellschaften, „Fake news“ und Hass im Netz wieder plausibler. Wie diese von Habermas vermissten ordnenden Öffentlichkeitsstrukturen aussehen können, wenn Gatekeeper und Autoritäten Macht und Plausibilität verlieren: Das ist die große Herausforderung des aktuellen Strukturwandels der Öffentlichkeit.

(Der Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Die Veränderung der öffentlichen Kommunikation“ in Das Baugerüst, der Zeitschrift der Evangelischen Jugend Bayern)

Autor: Felix Neumann

Social-Media-Redakteur bei katholisch.de. Mitglied in der Expertengruppe Social Media der publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz und im Vorstand der Gesellschaft katholischer Publizisten (GKP). Zuvor ehrenamtlich in verschiedenen Funktionen beim BDKJ und in der KjG, jetzt AG Digitale Lebenswelten. @fxneumann auf allen relevanten Netzen.

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