„Das Internet ist nur ein virtueller Raum. Da sind doch gar keine echten, realen Beziehungen von Mensch zu Mensch möglich. Lebt euer Leben in der realen Welt, anstatt euch in den virtuellen Netzwerken zu verlieren.“ So höre ich es oft von Internetkritikern, gerade auch im kirchlichen Raum, wenn ich von meiner Arbeit und meinem Engagement in den sozialen Netzwerken erzähle. Da wird dann oft ein Gegensatz zwischen der virtuellen und der realen Welt aufgebaut mit der Schlussfolgerung, dass die virtuelle Welt gegenüber der realen irgendwie defizitär, weniger echt sei.
Ich möchte in diesem Beitrag eine andere Sichtweise vertreten. An einigen konkreten Beispielen möchte ich aufzeigen, dass digitale Beziehungen sehr wohl tief und echt sein können, weil eben auch in der digitalen Welt echte, reale Menschen miteinander kommunizieren – eine Kommunikation, welche die Grenzen des Virtuellen überschreitet und auch in der „realen“ Welt stattfindet. Diese Beispiele sind größtenteils im sozialen Netzwerk Twitter verortet, weil dies das Netzwerk ist, das mir am vertrautesten ist und wo ich mich am ehesten zuhause fühle. Es sind auch eher säkulare Beispiele, denn eines habe ich durch meine Präsenz in den sozialen Netzwerken gelernt: Menschlichkeit, Toleranz und Respekt sind humane Werte, die alle Menschen angehen und auch außerhalb der Kirchen und Religionen gelebt werden.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2015 kursierte auf Twitter der Hashtag #RefugeesWelcome. Wie kein anderer stand er für die Willkommenskultur, die in Deutschland in diesen Monaten über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen machte. Unter diesem Hashtag wurde in den sozialen Netzwerken Hilfe organisiert. Menschen schrieben, was an den Bahnhöfen, an denen die Flüchtlinge ankamen, noch gebraucht wird – Decken, Nahrungsmittel, Kleidung, … – und andere Menschen brachten all das und noch mehr zu den vereinbarten Treffpunkten. Später wurden über #RefugeesWelcome weiterführende Hilfen beim Ankommen bereitgestellt: Behördengänge, rechtliche Fragestellungen, Deutschkurse – all das, was für eine Willkommenskultur wichtig ist und bleibt, wurde dort organisiert. Viele Beziehungen, auch in der realen Welt, sind dadurch angestoßen worden und konnten sich entwickeln.
Nach Terroranschlägen und anderen Katastrophen wird unter bestimmten Hashtags konkrete Hilfe organisiert und Beziehungen gefördert. Nach den Anschlägen in Paris 2015 öffneten Menschen unter #PortesOuvertes (dt.: Offene Türen) ihre Häuser für Gestrandete. Nach dem Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund 2017 boten Fußballfans aus Dortmund Fans der gegnerischen Mannschaft unter dem Hashtag #bedforawayfans eine Bleibe für die Nacht. Überhaupt erlebe ich gerade die Welt der Fußballfans, von der man in den Nachrichten oft nichts Gutes hört, als verbindend über nationale und internationale Vereinsgrenzen hinweg. Ein Bekannter von mir hat dafür den Begriff der „Fußballökumene“ geprägt.
Virtuelle Kerzen für echtes Gebet
Die Kirchen begleiten nach furchtbaren Ereignissen wie Terroranschlägen oder Amokläufen die Menschen, die auch in den sozialen Netzwerken Trost und Hilfe suchen, um das Unverständliche ansatzweise zu verstehen, indem sie „virtuelle“ Kerzen anzünden, zum Gebet für Opfer und Täter aufrufen (#prayforBerlin, #PrayforParis, …), aber auch auf seelsorgliche Angebote direkt vor Ort hinweisen. Gerade dieser Punkt der Kontingenzbewältigung ist es, den viele mit dem Engagement der Kirchen verbinden und der von Christen wie Nichtchristen dankbar angenommen wird.
Auf eine persönliche Begegnung möchte ich noch kurz zu sprechen kommen, die auf eindrückliche Weise die verschiedenen Welten – virtuelle und reale, Fußball und Kirche – miteinander verbunden hat. Ich erhielt die Anfrage eines Mitbruders aus der Abtei Ndanda in Tansania, der für seine Jugendlichen der Berufsschule auf der Suche nach Fußballtrikots war. Über Twitter hatte ich Kontakte in die Fanszene des Bundesligazweitligisten SV Sandhausen. Ich fragte dort an – und hatte innerhalb von fünf Tagen jemanden aus der dortigen Geschäftsstelle am Telefon. Die Übergabe der Trikots verlief reibungslos, es wurde über die sozialen Medien eine große Aufmerksamkeit auch in nichtkirchlichen Kreisen geweckt, und mittlerweile spielen die Jugendlichen der Berufsschule in Ndanda in Trikots des SV Sandhausen (wir berichteten darüber in den vergangenen Ausgaben des „Gruß“) – all das wäre ohne die Beziehungen in der digitalen Welt nicht zustandegekommen.
Hinter den Accounts sind echte Menschen
Wenn wir das nächste Mal digitale Beziehungen als minderwertig gegenüber „realen“ einordnen wollen, erinnern wir uns daran, dass auch hinter den verschiedenen Profilen und Accounts in den sozialen Netzwerken echte Menschen aus Fleisch und Blut sitzen, die miteinander kommunizieren. Es gibt zum Glück nicht nur die Populisten vom Schlage eines Donald Trump oder der AfD, sondern viele Menschen, die auch über die digitale Welt hinaus anderen Menschen mit Freundlichkeit und Respekt begegnen, Einige dieser Menschen konnte ich schon auf dem Klosterberg in Meschede begrüßen, andere habe ich an anderen Orten getroffen, sei es bei Vernetzungstreffen im kirchlichen Bereich, sei es bei einem der zahlreichen Social-Media-Stammtische, die ganz unterschiedliche Menschen zusammenbringen.
Und auch hinter den großen Accounts der Kirchen, Parteien, Nachrichtenseiten oder Fußballvereine sitzen Menschen, die dort im Auftrag ihrer Organisation mit anderen Menschen kommunizieren. Auch daran sollten wir uns erinnern, wenn wir den ein oder anderen scharfen Kommentar auf der Zunge oder in der Tastatur haben. Wenn wir uns daran erinnern, kann das vielleicht auch Auswirkungen auf unsere eigene Kommunikation haben.
Der Mensch wird von jeher als animal sociale, als Gesellschaftswesen definiert. Er ist auf verschiedenste Gemeinschaften angelegt und sehnt sich in seinem Innersten nach Zugehörigkeit und Beziehung. Die digitale Welt mit ihren sozialen (!) Netzwerken kann eine echte Art und Weise sein, diese Beziehungen zu leben – nicht weniger real als Beziehungen in der sogenannten „realen“ Welt.
#virtuelle Beziehungen
Sehr geehrter Herr P. Maurus!
Ich habe mir erlaubt, Ihren interessanten Text beim zweiten Lesen zu „verändern“: ich habe Worte wie „digitale Welt“ durch postalische Welt ersetzt, „digitale Beziehung“ durch Brieffreundschaft etc.. Dann lautet der letzte Satz: Der Postweg und seine Rundbriefe kann eine echte Art und Weise sein, Beziehungen zu leben, nicht weniger real, als tatsächliche Begegnungen zwischen Absender und Adressat.
Zugegeben, die so generierte Weisheit haut einen nicht wirklich vom Hocker. Sie hätte uns die letzten Jahrhunderte zumindest nicht über die Maßen erstaunt. Wir kommunizieren schon lange auf dieser nicht personalen Schiene.
Daher meine These: das Neue ist die Geschwindigkeit von Austausch, die extreme Kopierfähigkeit, die manchmal weltweite Einsehbarkeit von POST-ulaten u.v.m. – was jedoch nicht das eigentlich Beunruhigende an Online-Kommunikation ist. Bedenklich ist, dass wir weder psychisch, noch soziologisch, noch pädagogisch auf diese Form nicht-haptischer Kommunikation vorbereitet sind. Klar, wir kennen Begriffe wie Vision, Hypnose, „Gedankenübertragung“ oder „wir verstehen uns blind…“, diese sind jedoch tradiert und organisch eng gebunden an Seele und Geist.
Eine Mail, z.B. vom Handy aufs Handy, ist jedoch ausschließlich an Nullen und Einsen gebunden – und der Mensch kann mit Dingen wie Magnetismus oder Strom nichts anfangen, er hat nur Rezeptoren für deren Auswirkungen.
Daher rate ich dringend zu intensiven Bemühungen um Klärungen hinsichtlich unserer GANZHEITLICHEN Beziehungsbedürftigkeit. Die Versuchung, die Wichtigkeit sensorisch integrierter Kommunikation aus welchen Gründen auch immer zu verwässern, sehe ich in der aktuellen Diskussion allerorten unterschätzt. Praktisch, und mit einem Augenzwinkern auch provozierend hieße das: wer tippt, trifft zunächst mal nur die Tastatur; wer geht, trifft Menschen.
Liebe Grüße!