Wie bereits 2013, so hat auch 2018 der BDKJ-Bundesverband eine ausführliche Kommentierung des Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD vorgenommen – und zwar nicht nur jener Felder, die recht offensichtlich mit Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel Bildung, Integration und Jugendschutz, sondern auch im Bereich Wirtschafts‑, Entwicklungs- oder Sozialpolitik.
Kapitel V Abschnitt 5 des Koalitionsvertrages trägt den schlichten Titel „Digitalisierung“ – und doch taucht das Schlagwort der „digitalen Transformation“ nicht nur in diesem Kapitel auf, sondern wird auch in fast allen anderen Kapiteln immer wieder an prominenter Stelle platziert. Doch bedeutet dies, das dahinter eine kohärente digitale Strategie für die Bundesrepublik Deutschland steht? Und an welchen Stellen werden die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mit der Digitalisierung zusammengebracht, wenn in der Präambel des Vertrages (S. 5) schon die Rede davon ist, dass der „digitale Wandel“ so gestaltet werden soll, „dass alle davon profitieren“?
Überblick: Rahmenbedingungen für (digitale) Teilhabe?
Im Bereich Digitalisierung nimmt sich die neue Bundesregierung einiges vor. Deutschland soll Weltspitze in der digitalen Infrastruktur werden, was den Ausbau der Glasfaserleitungen in jedes Dorf und jede Gemeinde beinhaltet, und flächendeckendes offenes und freies WLAN zur
Normalität werden. Neben der Förderung außerschulischer Medien- und
Digitalbildungsprojekte soll beispielsweise auch ein „Bundesfreiwilligendienst digital“ eingeführt werden. Zudem soll eine Beteiligungsplattform für alle veröffentlichten Gesetzesentwürfe der Bundesregierung geschaffen werden, die der transparenten Beteiligung
von Bürgerinnen und Bürgern und Verbänden dient und zu welcher die Bundesregierung dann Stellung nimmt. Daten werden als wertvoller „Rohstoff“ und zugleich als „sensibles Gut“ verstanden. Eine „Datenethikkommission“ soll eingerichtet werden. Ein großer Fokus liegt
auch auf der Digitalisierung von Verkehrssystemen, insbesondere des ÖPNV, sowie Sharingsystemen und Rufbussen. Auf europäischer Ebene soll beispielsweise die Weiterentwicklung des Urheberrechts vorangetrieben werden.
Bewertung durch den BDKJ: Querschnittsthema oder Strategie?
Die Neuauflage der großen Koalition zeigt ein anscheinend verbessertes Verständnis von Digitalisierung als Querschnittsthema, das alle Ressorts betrifft. Dennoch erscheint das Kapitel V/5 nicht wie eine kohärent durchdachte Digitale Agenda oder Strategie, sondern eher wie der Versuch, die digitale Transformation als Antwort auf, statt als grundsätzliche Frage bezüglich vielfältiger Problemlagen zu verstehen. Ein Großteil der Vorhaben wird schlagwortartig aufgeführt, jedoch erscheint bisweilen unklar, wie diese umgesetzt werden sollen und wo die entsprechenden Verantwortlichkeiten dafür angesiedelt sein sollen. Schwammige Formulierungen wie z. B. „fairer Ausgleich“ beim Urheberrecht und eine Verwendung von Schlagworten wie z. B. Netzneutralität ohne inhaltliche Qualifizierung machen es bei vielen Abschnitten schwer, die Vorhaben zu bewerten.
Digitale Infrastruktur: Glasfaserausbau und freies WLAN
Es ist unklar, wie der flächendeckende Glasfaserausbau konkret ausgestaltet werden soll. Die Umsetzung eines flächendeckenden, offenen und freien WLAN ist eine Forderung der Kinder- und Jugendverbände, die seit langem besteht. Da die Störerhaftung leider immer noch nicht in dem Maße abgeschafft ist, dass es für Anbieterinnen und Anbieter problemlos möglich ist, ein offenes WLAN anzubieten, ist dies für viele Nutzerinnen und Nutzer nach wie vor keine rechtssichere Option. An dieser Stelle könnten die Bundesbehörden in den kommenden vier Jahren mit gutem Beispiel vorangehen und selbst offenes WLAN anbieten. Eine Anerkennung der Gemeinnützigkeit für Freifunk-Initiativen wäre eine große Unterstützung für die digitale Zivilgesellschaft.
Digitale Teilhabegerechtigkeit und Bildung
Positiv ist der Ausbau der außerschulischen Projekte im Bereich der Medien- und Digitalbildung zu nennen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass dies in bereits vorhandene Strukturen einfließt, um diese zu stärken. Überdies muss es das Ziel dieses Vorhabens sein, digitale Teilhabegerechtigkeit für alle Menschen in Deutschland zu ermöglichen, unabhängig von ihrem Zugang zu bestimmten Bildungseinrichtungen, Projekten oder Ressourcen. Die Zusage zu einem „Bundesfreiwilligendienst Digital“ bewerten wir durchaus kritisch, da damit Doppelstrukturen (zum FSJ Digital) geschaffen werden. Außerdem legt die Formulierung des Satzes die Vermutung nahe, dass die Arbeitsmarktneutralität der Dienste in Gefahr gerät. Innerhalb des Lerndienstes gilt es nicht als verabredet, den Nutzen, den die Einsatzstellen durch den jungen Menschen haben, derart prominent zu beschreiben oder gar durch eine geschickte Auswahl von Freiwilligendienstleistenden zu forcieren.
Zivilgesellschaftliche Partizipation im/durch das Netz
Eine Beteiligungsplattform für Gesetzesentwürfe, die der transparenten Beteiligung von Bürgerinnen, Bürgern und Verbänden dient und zu denen die Bundesregierung dann Stellung nimmt, bewerten wir ebenso positiv wie die Zusage, dass an mehreren Stellen „offene Formate“, „offen lizensierte Materialien“, „Open Educational Resources“ und „kostenfrei zur Verfügung gestellte Daten der öffentlichen Verwaltung“ genannt werden. Wenn das umgesetzt würde, wäre dies ein großer Fortschritt im Bereich Open Data, der langfristig auch zu einer erhöhten zivilgesellschaftlichen Beteiligung an politischen Diskursen führen und digitales bürgerschaftliches Engagement erleichtern würde.
Den Spagat, welchen die Bundesregierung zwischen den Daten, die als Rohstoff genutzt werden sollen, und einem guten Datenschutz leisten will, müssen wir im Sinne von Kindern und Jugendlichen und deren Persönlichkeitsrechten, aber auch der Lebensweltorientierung von Diensten und Anwendungen gut beobachten und kritisch begleiten. Die Prüfung von „digitale[r] Beteiligung unabhängig vom Ortsprinzip“ in politischen Parteien ist gerade für junge Menschen, die durch Ausbildung, Studium und Berufseinstieg eine erhöhte Mobilität zeigen müssen, sinnvoll und wünschenswert.
Digitale Praktiken von Kindern und Jugendlichen
Die geplante Anerkennung und Institutionalisierung von E‑Sport nimmt die digitalen Lebenswelten von jungen Menschen und ihre Vergemeinschaftungsformen ernst. Wünschenswert wäre ein stärkeres Bekenntnis zu einer nutzerorientierten Urheberrechtsreform. Positiv ist die Ablehnung von Upload-Filtern, die gerade für das Kommunikationsverhalten junger Menschen verheerende Folgen hätten; umso unverständlicher ist, dass die CDU im EU-Parlament dieses Projekt weiterhin vorantreibt.
Daten, Algorithmen und digitale Grundrechte
Der Plan einer Datenethikkommission, die innerhalb eines Jahres einen Entwicklungsrahmen für Datenpolitik, den Umgang mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und digitalen Innovationen vorschlagen soll, klingt äußerst ambitioniert. Leider ist unklar wie diese zusammengesetzt sein soll und wie mit den Vorschlägen umgegangen werden soll. Wichtig wäre hier eine Einbeziehung junger Menschen, um deren Praktiken und Mediennutzungsverhalten in die Reflexion einfließen zu lassen. Die Idee einer „europäischen digitalen Grundrechtecharta“ klingt vordergründig positiv, die unbestimmte Formulierung von „Chancen und Risiken der Digitalisierung“, die zu einem „gerechten Ausgleich“ gebracht werden sollen, macht das Projekt allerdings fragwürdig: „digitale Grundrechte“ existieren bereits auf nationaler und EU-Ebene, da Grundrechte ebenso online gelten; es ist zu befürchten, dass über dieses Projekt Grundrechte tatsächlich eingeschränkt bzw. systemwidrig durch „Grundpflichten“ ergänzt werden sollen.
Jugendmedienschutz digital?
Ein moderner und zeitgemäßer Jugendmedienschutz, wie ihn der Koalitionsvertrag in Kapitel III Abschnitt 2 (S. 23) skizziert, verlässt sich richtigerweise nicht allein auf die Wirkung eines klar gesetzten Rechtsrahmens, sondern stellt ihm die Stärkung von Kindern und Jugendlichen durch Medienkompetenz und Medienbildung zur Seite. Berücksichtigt werden sollten in der Weiterentwicklung des Jugendmedienschutzes auf Bundes- als auch auf Länderebene überdies zum einen die Vereinfachung der Strukturen und Zuständigkeiten der zahlreichen Akteure im Feld und zum anderen eine Orientierung der Schutzstandards an der rezenten Medienwirkungsforschung als auch an den vielfältigen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in einer medien-divergenten Welt, in der sich häufig ein Medium nicht von einem anderen trennen lässt (z.B. YouTube).